2.7 Aus Moshes Zürcher Jahren

  

 

 

 

 

 

 

Lea Wolgensinger wurde 1943 in Zürich geboren. Seit 1949 war Moshe Feldenkrais regelmäßiger Gast in ihrem Elternhaus. Bei ihm machte sie 1983 in den USA ihre Feldenkrais-Ausbildung. 1984, zwischenzeitlich Mutter von drei Kindern eröffnete sie in Zürich und Tegna/Tessin Feldenkrais-Praxen. Im Jahr 1984 war sie auch Mitbegründerin des Schweizerischen Feldenkrais-Verbandes. Sie war beteiligt, als 1989 eine europäische und 1991 eine weltweite Feldenkrais-Organisation ins Leben gerufen wurde. Seit 1988 unterrichtet sie in Ausbildungen europaweit und ist inzwischen autorisierte Feldenkrais-Trainerin. 

 

2.7 Aus Moshes Zürcher Jahren 

Die bekannten Schweizer Fotografen Luzzi und Michael Wolgensinger führten nach dem Zweiten Weltkrieg rund 30 Jahre lang ein offenes Haus im Zentrum von Zürich. Dort trafen sich Künstler, Schriftsteller, Musiker und Intellektuelle aus ganz Europa. Mit einem von ihnen entwickelte sich eine besondere Freundschaft, die bald Konsequenzen für das Familienleben der Wohlgensingers haben sollte: Moshe Feldenkrais. Erwürbe sozusagen ein wahlverwandtes Familienmitglied. 

In diesem Kreis wuchs Lea Wolgensinger, Tochter des Fotografenehepaares, auf. Sie wurde schon in ihrer zartesten Kindheit mit dem „Feldenkrais-Bazillus" infiziert, ein Bazillus, der ihr nicht schadete, der aber weitgehend ihr Leben beeinflusste, denn sie ist seit 1983 selbst Feldenkrais-Lehrerin.

Nach Abschluss ihrer Ausbildung eröffnete Lea Wolgensinger in Tegna(Tessin)und in Zürich eigene Feldenkrais-Studios und gründete mit anderen den Schweizerischen Feldenkrais Verband. 

Hanna Künzler-Schmidt sprach mit Lea Wolgensinger. 

 

Wie kam Feldenkrais in Deine Familie? 

Es war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Franz Wurm, ein junger Schriftsteller, fasste damals in unserer Familie Fuß, und er war es, der Moshe Feldenkrais Ende der vierziger Jahre erstmals zu uns ins Haus brachte. 

Du nennst Feldenkrais ein wahlverwandtes Familienmitglied. Was verstehst Du darunter und was verband ihn mit Deinen Eltern? 

Moshe Feldenkrais kam vielleicht vier oder fünf Mal pro Jahr nach Zürich, mal einige Tage, oder auch für zwei bis drei Wochen. Oft ging er von Zürich aus zu Konferenzen oder Seminaren nach Genf, München oder Paris. Da Moshe bald einen eigenen Schlüssel zu unserer Wohnung hatte, wussten wir manches Mal nicht, wann er kommen würde. Zum Beispiel konnte es passieren, dass er nachts anreiste und morgens überraschend zum Frühstück erschien. Die Freude war immer gross, wenn er da war. 

Meine Eltern waren unkonventionelle Denker und offen in ihrem Herzen für Andersdenkende, Außergewöhnliche, nicht zum Mittelmaß Passende. Da passte Feldenkrais gut dazu. Gleichzeitig lebten sie in ihrem Alltag einen regelmäßigen Rhythmus mit Arbeiten, Essen, Arbeiten und Schlafen. Und auch das war Balsam für den ständig reisenden Freund. Wie bei ihm gab es auch bei uns zwischen Arbeit und Freizeit keine strenge Trennung. Die Arbeit war Faszination, Forschen, Kreieren, Freude genauso wie Verpflichtung und Geldverdienen. Feldenkrais integrierte sich so selbstverständlich in unseren Alltag, als wäre er immer mit uns zusammen gewesen. Viele Abende waren Gesprächen, der Musik und gemeinsamer Lektüre gewidmet. Vor allem, wenn noch andere Freunde anwesend waren, zogen sich die Ge- spräche bis in die Morgenstunden hin. 

Wie war diese Stimmung für Dich? 

Als kleines, später schulpflichtiges Mädchen verstand ich von diesen Abenden nicht viel, hatte aber seltsamerweise trotzdem das Gefühl, als hätte das etwas mit mir zu tun. Die Stimmung war spannend, fröhlich, manchmal ausgelassen. Es ging hier um etwas, was sich ganz anders anfühlte als alles in der Schule oder in der Stadt. Es ging um Leben, überleben, besser Leben, Lebensfreude. Davon muss ich wohl einiges mitbekommen haben. 

Meine Mutter, in Bukarest und Wien aufgewachsen, erfand als phantasievolle Köchin immer wieder neue Gerichte für uns und die Freunde. So konnte die Zusammenstellung ihrer Gerichte durchaus ein abendfüllendes Thema sein, wenn die entsprechenden Leute zu Besuch waren. 

Moshe Feldenkrais war einer von ihnen. Er war seit seiner Jugend viel in der Welt herumgereist und kannte daher viele Kulturen. Essen und Trinken waren für ihn immerwährende Themen und bei meiner Mutter kam er diesbezüglich ganz auf seine Kosten. 

Sprach Feldenkrais oft über seine Arbeit, und in welcher Sprache fanden die Gespräche in Deiner Familie statt? 

Das kam ganz darauf an. Wenn Moshe Feldenkrais allein bei uns weilte, sprachen wir französisch miteinander. Ich erinnere mich auch, dass meine Eltern und er sich über lange Jahre dieser Freundschaft hin siezten, das war eine Frage des Respektes. Sobald andere Freunde dazukamen, wechselte man auch zum Englischen oder zum Deutschen über oder sprach abwechslungsweise in einer der drei Sprachen, je nachdem, welche sich gerade am meisten eignete. 

Im Prinzip ging es immer um das gleiche, nämlich um das Thema Mensch. So wie ich das damals erfassen konnte, ging es darum, wie der Mensch denkt und fühlt, wie er handelt, also funktioniert und wie dies sichtbar wird in seinen Bewegungen. Solche Themen wurden aber nicht immer nur an Abenden erörtert, sondern sie wurden Teil unseres Alltages. Wenn Moshe uns etwas verständlich machen wollte, dann tat er das anhand eines Beispiels. So erfuhren wir viele Geschichten, die er mit seinen Schülern erlebt hatte. 

Seine ungewöhnliche Sichtweise des Menschen war für uns ungewohnt und immer wieder überraschend. Nicht das „Problem" interessierte ihn, sondern der Weg zu einer Lösung. 

Die Arbeit aus meiner eigenen Praxis mit einem jungen Architekten, nennen wir ihn Philipp, ist dafür ein gutes Beispiel. 

Als Motorradfahrer wurde er schuldlos in einen Unfall verwickelt und sein rechtes Bein samt Fuß wurde zerschmettert. Operationen, Rehabilitationen mit Physiotherapie, Arbeitsunfähigkeit für viele Monate, das Gehen an Krücken waren die Äußeren Zeichen seiner Misere. Sein Selbstbild war das eines Opfers und Minderwertigen. Dass er immer noch nicht arbeitsfähig war, schrieb er sich selber zu. Sein Ziel war es, die rechte Ferse wieder auf den Boden zu bringen, und damit verbrachte er sich gewaltig anstrengend - mehrere Stunden täglich. Er verwandte seine ganze Zeit also dafür, dieses Problem zu überwinden und während er das tat, nährte er es mehr und mehr, so dass es immer grösser wurde. Ein Misserfolg war vorprogrammiert und das spürte er auch. 

Misserfolge manifestieren sich in der Atmung und erhöhen daher den Tonus im Brustkorb: Die Atmung wird noch schwieriger. In meiner ersten Lektion, bei welcher er auf dem Rücken lag, zeigte ich Philipp, wie durch meine Arbeit an seinem linken Bein, welches die Hauptlast zu tragen hatte, sein Brustkorb sich von der großen Spannung befreite, so dass er leichter atmen konnte. Ich bezog sein Becken und den Kopf so in meine Arbeit ein, dass sein Nervensystem zur aufrechten Haltung und zum Gehen neue und klare Verbindungen herstellen konnte. Der letzte Teil meiner Lektion betraf seinen rechten Fuß, also sein Problem. Es war meine Absicht, aus dem jetzt empfundenen Klumpen und Bösewicht ein lebendiges und differenziert wahrnehmbares Stück Mensch zu machen. Dazu brauchte es feine Detailarbeit. Die Zehen und der Mittelfuß wurden beweglicher, warm und die Sprunggelenke liessen sich leicht bewegen. In einer Stunde lernte Philipp, dass er mehr konnte als er dachte. Damit eröffnete sich ihm ein großes Potential, welches wir in weiteren Lektionen durch Berührung, Hinweise und Fragen, manchmal auch Gespräche, noch erweitern konnten. Da ich nicht wusste, wohin sich diese Zusammenarbeit entwickelte, gab Philipp die Richtung und den Rhythmus an. Die Schritte waren klein, aber ständig gingen sie in die Richtung von mehr Aufmerksamkeit und Wahrnehmung und daher Leichtigkeit. 

Die folgenden Lektionen waren der Bejahung und Entmachtung von Angst, Opferhaltung und Minderwertigkeitsgefühlen und dem Aufbau des Selbstvertrauens gewidmet. Die innere Arbeit dazu musste Philipp tun, meine Hilfe war ihm zu zeigen, wie er das machen konnte. Als Philipp begann, sich für sich selbst zu interessieren, war ein weiterer großer Schritt getan. Er verstand, dass er wunderbar und liebens- wert war, und dass die Lektionen auch nach ihrem Ende weiter in seinen Alltag hineingingen. Ein Alltag, in welchem er durch die veränderten Umstände viel Zeit hatte. Und diese Zeit verwandte er nun dazu, viel Neues auszuprobieren. Er experimentierte mit seinem Gleichgewicht und wandte die erlernten Zusammenhänge im Stehen und Gehen sinnvoll an. 

Philipp erlebte sein Ganzwerden zunehmend bewusster, er dachte darüber nach, und seine Stimmung verbesserte sich zusehends. Aus dem Leistungsgedanken und dem Sich anstrengen wurde Spiel. Das Staunen, Sich-Wundern und Vertrauen gaben immer neue Nahrung für weitere Fragen. Philipp begann sich kompetent zu fühlen in Bezug auf seine eigenen Belange und verließ sich nicht mehr auf seine Therapeuten. 

Da diese Art der Denk- und Handlungsweise von der gängigen so weit entfernt ist und wir so viel Gewohntes ablegen müssen, bin ich froh, schon von Kindesbeinen an mit dem Gedankengut von Moshe vertraut gewesen zu sein. 

Gibt es Beispiele von Gesprächen zwischen Moshe und Deiner Mutter? 

Ich habe viele Erinnerungen, in denen Moshe in der kleinen Küche meiner Eltern rauchend am Tisch saß, während meine Mutter - ihm den Rücken zukehrend - das Abendessen zubereitete. Was immer er gedacht oder getan hatte an diesem Tag, suchte er zu formulieren, zu beweisen oder er behauptete es einfach. Als breitgefächert denkender Wissenschaftler hatte er stets genügend Argumente zur Hand. Bei meiner Mutter kam das nicht immer gut an. Sie hörte zu, fragte nach, er setzte neu an und konnte sich unter Umständen in komplizierte Beweisführungen hineinsteigern, während sie weiter die Zwiebeln schnitt und anbriet. Sie war selten aus der Ruhe zu bringen. 

Schlussendlich konnte sie ihn einfach fragen, was all das mit dem Leben zu tun habe. Das konnte ihn ziemlich verwirren. Er revanchierte sich meistens, indem er ihre Bewegungen - beim Kochen bewegte sie sich in einem Radius von 1 bis 2 Metern nach rechts und links, griff manchmal nach oben oder nach unten - genau studierte und kommentierte. Dieser Schlagabtausch führte oft zu Heiterkeit, der Groll war gebrochen und Moshe konnte weiter seine Gedanken spinnen und seine Beweise durchführen. 

Als Du später in Amherst (USA) bei Feldenkrais die Ausbildung machtest, er- kanntest Du Themen wieder, die Moshe und Deine Mutter damals diskutierten? 

Viele. Eine lustige Erinnerung an Moshes Zürcher Besuche kam für mich auf, als er im Training über das „richtige Zwiebelschneiden" sprach. 

Darin erklärte er, dass er als Physiker wisse, dass Zwiebeln beim Schneiden Gase entwickeln. Noch heute brächen die meisten Hausfrauen dabei in Tränen aus. Der Grund für dieses Phänomen seien jedoch nicht die Zwiebeln, sondern die Hausfrauen, die sich beim Schneiden direkt über die Zwiebeln neigten, statt aufrecht und mit locker gestreckten Armen den Gasen der Zwiebel auszuweichen. Das hatte er natürlich bei meiner Mutter gesehen! 

Oder die andere Szene mit dem kleinen Stock, der nicht von alleine stehen „wollte". Viele Küchengeräte meiner Mutter waren schon in ähnlicher Weise für Moshes Ver- suche benutzt worden, um ihr das „instabile Gleichgewicht" zu erklären. Die Schwerkraft war für ihn sowieso ein ständiges Thema. Wenn Moshe bei uns war, ließ er oft Löffel und andere Gegenstände auf den Küchenboden fallen, aus verschiedenen Höhen, auf verschiedene Unterlagen, usw. Das gleiche Phänomen wurde durch diese Sichtbarmachung differenzierter. Ich habe bei diesen Spielen gerne mitgespielt und einen Riesenspaß daran gehabt. Sicher habe ich viele dieser Szenen erst in Moshes Unterricht in Amherst wiedererkannt und selbstverständlich verstanden. 

Moshe war ganz offensichtlich raumgreifend und konnte die Aufmerksamkeit seiner Umwelt vollkommen auf sich ziehen. 

Ja, sicher, aber er war echt in dem, was er tat. Für mich als Kind war es meistens schwierig, diese Dynamik zu unterbrechen. Und auch wenn ich von der Schule nach Hause kommend meine Mutter gerade gebraucht hätte, galt es zu warten. 

An eine Szene erinnere ich mich besonders stark. Ich muss Erstklässlerin gewesen sein, als ich einmal nach Hause gerannt kam, um meiner Mutter etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich stürmte durch Wohnungstür, Korridor, Wohnzimmer und konnte gerade noch rechtzeitig bremsen - ein merkwürdiges Bild bot sich mir: Die Möbel waren allesamt an die Wände geschoben worden, auf dem Boden lagen, umgeben von vielen harten Kartonrollen, meine Mutter, mein Vater, Franz Wurm und Nachbarn, allesamt in skurrilen Stellungen, ganz still und bewegten sich im Zeitlupen- tempo. Moshe saß auf einem Stuhl und gab Anweisungen. Ich hatte das Gefühl, hier dürfe ich nicht stören, aber meine Geschichte war so dringend, dass ich Körper und Rollen überkletterte und schließlich auf meiner überraschten Mutter landete, um ihrem Ohr meine Neuigkeit einzuflüstern. 

Das war mein erster Eindruck von etwas, was sich später ganz offiziell „Bewusstheit durch Bewegung" nennen sollte, und was ich später selbst unterrichten würde. 

Wie verhielt sich Feldenkrais Dir gegenüber? 

Ganz toll! Was ich so sehr an ihm schätzte, war, dass er mich nie wie ein Kind behandelte, sondern mich immer als eigenständigen Menschen ansprach. Diese Eigenschaft konnte ich später während seiner Arbeit mit Kindern klar wiedererkennen. Er machte zwar viele kleine Scherze, doch verwendete er dabei niemals die von Erwachsenen oft benutzte Babysprache. Er wusste auch, dass Kinder sehr gut selber wissen, was sie brauchen. Und seine Fähigkeit war es eben, Kinder zu lernenden zu machen, wenn eine Funktion schwierig war oder ganz fehlte. 

Du hast ihn auch in Tel Aviv getroffen. 

Ich war einige Male in Tel Aviv. Das erste Mal als 1Sjährige mit meinen Eltern, als diese eine Reise in den Nahen Osten machten für ein Fotobuch über die biblische Welt. Im Rahmen dieser Reise sind wir auch einige Tage in Tel Aviv gewesen und haben bei Moshe gewohnt. Dabei haben wir seine Familie kennengelernt, seine Mutter Sheindel, seinen Bruder Baruch und seine Haushälterin, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Auch seinen Großen Freundeskreis, alles wunderschöne, vom Leben gezeichnete Menschen, die meisten aus nordöstlichen Ländern Europas. 

Später dann, als 24jährige, frisch verheiratet, half uns Moshe einen Kibbuz zu fin- den, in dem wir die damals fortschrittliche Landwirtschaft Israels kennenlernen konnten. 

War Moshe ein anderer in Tel Aviv als bei Euch zu Hause? 

Ja natürlich. Als ältester Sohn war er dort wie ein Familienvorstand. Seine Mutter war in späten Jahren noch Malerin geworden, doch dann war sie lange krank und wurde zu Hause gepflegt. Sein Bruder hatte einen Verlag in den Räumen des Feldenkrais Instituts an der Nachmani Straße. Das war wie ein Bienenhaus, in welchem viele Menschen ein und ausgingen. Moshe gab täglich viele Lektionen. Sie waren zwischen 30 und 40 Minuten und kosteten damals so um die$ 15. 

Er bildete auch eine Gruppe von Schülern aus, die seinem Einzelunterricht folgten und die er supervisierte. Auch hatte er neun oder mehr ATM-Lektionen pro Woche in einem Kellerlokal der Alexander-Yanai-Straße. Der Rester Zeit war dem Lesen, dem Beantworten unendlich vieler Briefe, dem Schreiben und Telefonieren gewidmet. Das war eine unglaubliche Arbeitsleistung über Jahre hinweg. Heute würde man das Doppel- und Dreifachbelastung nennen. 

Neben seinem Institut hatte Moshe noch eine Wohnung. Obwohl diese nicht so weit entfernt war, nahm er immer sein Auto. Er hatte damals einen blauen Amerikaner, und wenn er sich hineinsetzte, konnte er kaum aus der Scheibe gucken, denn er war ja sehr klein. Ich hatte jedes Mal fürchterlich Angst, wenn er so losfuhr. Seine Wohnung hatte zwei Zimmer: Einen Arbeitsraum voller Bücher, Tonbänder und Haufen von Papieren und ein Wohnzimmer mit einer Schlafnische. Auch dort sah man vor lauter Büchern keine Wände mehr und der Boden war ebenfalls damit belegt. 

Seine Vorliebe galt kleinen Utensilien, wie raffinierten Messer-Scheren-Kombinationen oder Minitaschenlampen, später kleinen elektronischen Geräten. 

In Zürich ging er regelmäßig seine Shoppingtour an der Bahnhofstrasse machen und kam immer mit einer Ausbeute nach Hause, die wir dann bewundern mussten. 

Du hast mehrere Einzellektionen von Feldenkrais erhalten. Wie war das für Dich? 

Nun ja, ich war ja gesund und meine Eltern hatten nie ein spezielles Aufsehen um ihn und seine Methode gemacht, so wie sie es auch mit anderen Leuten nicht getan hatten. Darum erwartete ich auch keine Wunder oder fühlte mich besonders geehrt. Aber nach der ersten „Funktionalen Integration" von Moshe stand ich mit einem vorher nie gekannten Körpergefühl auf, ich empfand eine unendliche Leichtigkeit. 

Bevorzugte Feldenkrais eher FI-Lektionen oder ATMs? 

Weder noch. Der wesentliche Unterschied lag für ihn in erster Linie im Zeitaufwand. Mit seinen ATM-Gruppen konnte er wesentlich mehr Leute erreichen. Viele seiner ATMs hatte er aus bereits gegebenen FIs so umgesetzt, dass sie mehrere Personen zur gleichen Zeit machen konnten, das war ihm wichtig. Auch konnte er die beiden Techniken leicht miteinander verbinden. In der Einzelarbeit ließ er phasen- weise seine Klienten selbst Bewegungen durchführen und manchmal berührte er auch jemanden in einer Gruppe. Für ihn war es Feldenkrais-Arbeit, die eine durch Berührung, die andere durch verbale Kommunikation und ich denke nicht, dass er eine Methode bevorzugte. 

Die meisten Practitioners kennen Feldenkrais nur von den Trainings in San Francisco oder Amherst, die späteren sogar nur aus den Videos von Amherst. Dort war er ein Mann mit Weißen Haaren und weit über 70 Jahre alt. In seinem Unterricht wechselte er die Stimmung ständig, konnte witzig, ungeduldig und manchmal auch böse sein. Erlebtest Du ihn früher auch schon so? 

Eigentlich nicht. Ich habe ihn so in Erinnerung wie ich ihn beschrieben habe. Er hatte großen Humor, war fröhlich und konnte herzlich lachen. Dass er etwas von seiner Leichtigkeit einbüßte, war eher in den Jahren, als er Fünfzig, Sechzig war. Als gute Beobachterin nahm ich aber sehr wohl wahr, dass ihm zunehmendes Alter und der gewachsene Bekanntheitsgrad viel zu schaffen machten.

Woran lag das? 

Das hatte sicher viele Gründe. Er hatte sich zu positionieren im Kreise derer, die sich parallel mit ihm um die Entwicklung des Menschen profiliert hatten wie etwa lda Rolf, Frederic M. Alexander und andere. Feldenkrais verkehrte zwar nicht regelmäßig mit ihnen, kannte sie aber alle persönlich und hatte sich auch mit ihnen in Ge- sprächen und mit ihrer Literatur auseinandergesetzt. Leider wurde er immer wieder mit ihnen verglichen und in den gleichen Topf geworfen. Das ärgerte ihn, denn er fand seine Menschensicht und die daraus entstandene Methode die weitaus konsequenteste. Seine Erfahrung und seine breiten wissenschaftlichen Kenntnisse sowie seine Fähigkeit, sich jeder Situation neu und mit ganzer Offenheit zu stellen, hatten ihm viele Erfolge gebracht. Er konnte Menschen weiterhelfen, wenn sie von anderen schon längst aufgegeben worden waren. Denn er orientierte sich an allem was sie konnten, weitete dieses Können aus und erreichte damit auch irgendwann einmal den Teil, der nicht richtig funktionierte. 

Diese Herangehensweise konnte kein anderer vorweisen und darum war er auch überzeugt, dass seine weiter entwickelten Techniken die weitaus effizientesten sind. 

Was für ein Verhältnis hatte er zum Erfolg? 

Moshe war auf Erfolg angewiesen wie jeder andere, der der Welt etwas zu vermitteln hat. Er erzählte gerne und lange von seinen Erfolgen, denn sie waren für ihn Zeichen, dass man sich für seine Arbeit interessierte. 

Gab es Personen, die Feldenkrais besonders oft erwähnte? 

Er erwähnte immer wieder die Menschen, die ihn durch ihre Denk- oder Handlungsweise in irgendeiner Art berührt hatten. Das konnten seine Klienten sein, seine Freunde, Wissenschaftler, kurz Menschen, Fähige, wie er sie nannte, die sich selbst und anderen in entscheidenden Momenten besonders phantasievoll weiterhelfen konnten. Eine ganz besondere Verehrung hatte er für Milton Erickson, welchen er als Genie bezeichnete. 

Was verband Feldenkrais denn mit Erickson? 

Sie hatten beide eine besondere Fähigkeit, die sie bewusst einsetzten und weiterentwickelten. Diese basierte auf ihrem Glauben an die Einmaligkeit und Wichtigkeit der unmittelbaren Situation. Konkret gesagt heißt das, dass sie mit jedem Klienten in jeder Stunde etwas Neues erfinden mussten, sich also nicht erlaubten, routinemäßig zu arbeiten. So ein Vorgehen erfordert viel Kreativität und Mut und die Risikobereitschaft, Fehler machen zu können und durch Fehler zu lernen. Eine Ansicht, die in der damaligen Zeit noch keineswegs gängig war. 

Feldenkrais hat sich erst sehr spät dazu entschließen können, seine Methode an andere weiterzugeben. Wie erklärst Du Dir das? 

Das war eine Schwierigkeit, die aus ihm selbst herauskam. Er hatte Angst, seine Methode weiterzugeben, sei es durch Schreiben, sei es durch das Unterrichten von ausgewählten Leuten. Diese Angst war mir, schon als junger Frau, sehr einsichtig. Moshe wollte nicht, dass man ihm nachplapperte; er wollte seine Aussagen auch nicht als Rezepte verstanden haben. Alles was er sagte oder schrieb, schien diesem Phänomen aber Vorschub zu leisten. 

Äußerte er sich darüber?
Ja, je älter er wurde, desto wichtiger wurde dieses Thema für ihn. 

Erstellte immer wieder seine eigene Denkweise in Frage und das nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern in der Öffentlichkeit. Er liebte es, sich zu widersprechen und erreichte damit das, was er wollte: Er verunsicherte die anderen, wurde unfassbar. Dazu brauchte es viel Mut und vor allem ein Zu-Sich-Stehen. Irren war für ihn nicht nur menschlich, sondern fundamental lebensnotwendig. Es war eine Qualität, die Bewegung und dadurch Lebendigkeit auslöste. Das habe ich später in der Amherst- Ausbildung erlebt: Viele Studenten konnten seine inneren Auseinandersetzungen nicht nachvollziehen, empfanden ihn als launisch oder stellten ihn - einem Denk- mal gleich - auf einen Sockel. Zum Glück musste ich das nie tun und auch meine Eltern nicht. 

Moshe war für mich immer fassbar geblieben. Ein Suchender zwar, aber einer unter den wenigen dieser Welt, die einerseits klar denken konnten und andererseits das ,,Sich-Wundern" nie verlernten. 

War Deine Mutter in dieser Auseinandersetzung auch eine Hilfe für ihn? 

Ja, aber sie hat es ihm nicht leicht gemacht. Das kritische Hinterfragen durchdrang sämtliche Gespräche zwischen Moshe und ihr. Er schätzte und brauchte ihren Widerspruchsgeist sehr. Sie war eine Frau, die sich sehr für Philosophie und Lebensfragen interessierte, und die außergewöhnlich unkonventionell denken konnte. Die Herausforderung von Moshe hatte für sie einen besonderen Reiz. Sie war stark genug in ihrem Wesen und ihre eigene Lebenserfahrung war sehr intensiv und von Extremen begleitet gewesen, die sie immer wieder auszubalancieren hatte. Sie war eine der ersten Frauen der Schweiz, die den Beruf der Fotografin erlernte. 

 

Was für ein Verhältnis hatte Feldenkrais zu Deinem Vater?

Sie hatten ein sehr freundschaftliches Verhältnis zueinander. Die beiden schätzten sich sehr, konnten manchmal wie Lausbuben miteinander sein. Mein Vater akzeptierte es, daß meine Mutter für ihn keine Zeit hatte, wenn Moshe in Zürich war. Die Abende waren meistens sehr lang. Während meine Mutter und Feldenkrais mit Worten und ihrem Inhalt jonglierten, war mein Vater eher ein stiller Zuhörer. Und alle wussten: Irgendwann während des Abends würde er etwas ganz Wesentliches zum Gespräch beitragen, das dann eine neue Wende nehmen konnte. 

Im Sommer 1981 reiste mein Vater nach Amherst (USA), wo Moshe im Alter von 78 Jahren seine letzte Ausbildung durchführte. Mein Vater fotografierte nicht nur den Unterricht mit seinen ATM-Lektionen und Talksvon Moshe, sondern auch die nach dem Unterricht angehängten täglichen drei bis vier Einzellektionen mit Privatklienten. Dabei machte er eine Serie von über 1000 Aufnahmen, die uns heute eine wichtige Dokumentation sind. 

Als Du die Feldenkrais-Ausbildung in Amherst machtest, warst Du bereits Mutter von drei kleinen Kindern. Was waren für Dich die Gründe, den Beruf der Feldenkrais-Lehrerin zu erlernen? 

Moshe hatte teil an meiner Entwicklung und ermutigte mich auch darin. Mein unstetes Wesen dürfte er sehr gut nachempfunden haben. Mein Leben hatte mich in der Zwischenzeit von meinem Elternhaus weg auf andere Pfade geführt. Ich hatte gelernt, ein Sekretariat zu führen, wertvolle Bücher zu binden und war schließlich als Allrounderin beim Theater gelandet. Ich pendelte zwischen Büro, der selbst eröffneten Schneiderei und den Theatergarderoben hin und her. Das Jahr 1968 brachte mir einerseits Erlösung von alten Werten, Freiheit und neue Energie, auf der anderen Seite suchte ich Beständigkeit. Ich heiratete 1967 einen Studenten der Landwirtschaft, studierte Sozialpädagogik und gründete eine Familie, eingebunden in einen jurassischen Landwirtschaftsbetrieb. 

1980, nach der Trennung von Mann und Bauernhof und mit einem schweren Asthmaleiden behaftet, fand ich wie selbstverständlich den Weg in Moshes letzte Berufsausbildung in Amherst. Es brauchte keine langen Entscheidungen, keine lange Vorbereitungszeit. Ich war plötzlich dort. Wie mir als alleinerziehender Mutter mit kleinen Kindern, die damals im Süden Frankreichs von einer Invaliden-Rente bescheiden lebte, das passieren konnte, habe ich später durch die Talksvon Moshe zu verstehen gelernt. Es ging um die innere Absicht, mehr noch: Um die Klarheit der inneren Absicht. 

Was die innere Absicht mit Bewegung, bzw. Handlung zu tun hat, habe ich - unter anderem - in den vier Sommern in Amherst gelernt. 

Wie ging das vor sich?
Die Ausbildung war für mich eher ein offenes System. Es war keine große Zauberei, 

den Zusammenhang zwischen innerer Absicht und Bewegung zu erkennen. 

Widersprüche, mit denen Moshe uns Studierende jeweils fast zur Verzweiflung trieb, waren mir eine bekannte Erinnerung aus früher Jugend. Es waren Widersprüche, die mich nicht ängstigen konnten. Der Mann war für mich immer auf dem Bo- den gestanden und blieb dort auch weiterhin. 

Moshe konnte reden und reden, und je mehr er sprach, desto differenzierter wurde er. Meistens blieb es uns überlassen, die Essenzaus dem Gesagten herauszufinden. Wir taten das natürlich abends nach dem Kurs und legten uns dann zufrieden ins Bett. Am anderen Morgen konnte Moshe dann seine Erläuterungen von gestern total über den Haufen werfen, ja ad absurdum führen - wir waren die Geprellten. Was er damit bei starken Menschen erreichte, war, daß sie anfingen selber nachzudenken und sich nicht mehr ausschließlich auf ihn zu verlassen. Und das war eigentlich das, was er wollte. In jedem Falle war es für alle sehr herausfordernd und anstrengend. 

Es gibt ca. 2000 bis 3000 ATM-Lektionen. Wie „erfand" Feldenkrais immer wie- der neue Lektionen? 

Moshe hatte präzise Kenntnisse der menschlichen Anatomie. Alles, was in unserem Körper vor sich geht, hatte er gelernt. Alles was sich beobachten, empfinden, spüren ließ und sich daher erkennbar ausdrückte, war sein zweites Standbein in der Erforschung des Menschen. Und im Beobachten und Kombinieren war er eben ein Meister. Dort wo Moshe war, waren auch seine „Testpersonen". Er brauchte nur um sich zu schauen und zu sehen. Was sich verbessern ließ, war Anlaß für eine neue ATM, die er an sich selbst, am liebsten nachts, auf dem Boden liegend, erfand und entwickelte. So schnell wie möglich wollte er dann die eigenen Erfahrungen mit anderen ausprobieren. In meinem Elternhaus spielte sich das dann so ab, wie ich schon beschrieben habe. Ohne großes Aufsehen schob man die Stühle beiseite und legte sich auf den Boden. Oft wurde dann noch ein Tonbandgerät geholt und Moshe begann. Die Lektionen wurden an anderen Tagen und mit anderen Leuten wiederholt, verändert, verbessert. 

Die Technik„ Bewusstheit durch Bewegung" wird ja explizit „verbal" genannt. Kam diese Bezeichnung von Feldenkrais selbst? 

Daran zweifle ich. Schon früh ist mir aufgefallen, daß Moshe mit präzisen Formulierungen Mühe hatte. Vielleicht waren sie ihm auch gar nicht so wichtig. In jedem Falle lag das nicht an seinen Sprachkenntnissen, denn er hatte ja schon seine Stu- dien als Ingenieur und Physiker auf französisch gemacht. Es lag viel mehr an der Art und Weise, wie sein Gehirn arbeitete und an seiner Einstellung zu Sprache überhaupt. Er wusste, sah und kombinierte zu viel auf einmal, das heißt, er dachte sehr schnell, und das in Sprache umzusetzen, war für ihn ein ungeheures Dilemma. Sprache schien ihm daher, mit Fug und Recht, das beste Mittel zu Missverständnissen zu sein. In Amherst sagte er einmal "The moment you say something, it's already wrong". Was er damit meinte ist, daß wir nicht denken und sprechen können zur gleichen Zeit. Denken ist ein stiller Prozess, Sprechen ist zum Kommunizieren, aber eben wie? Es gibt nie die absolut richtige Sprache für den Gedanken, denn wenn die Sprache hörbar wird, ist der Gedanke schon überholt. 

Hier kann ich ein schönes Beispiel aus den Anfangszeiten meiner Praxis einfügen: Ich erhielt eines Tages ein Telefonat von einer Freundin, die weit weg im oberen Tal wohnte. Ihre Nachbarin, eine Bäuerin, war bei ihr zusammengebrochen und nun 

bat sie mich um Hilfe. 

Eine halbe Stunde später waren beide bei mir und ich wurde Zeugin einer unglaublichen Geschichte. Maria Luisa, Mitte Fünfzig, war Bäuerin in einem abgelegenen Dorf. Sie war verheiratet, ohne Kinder und machte neben dem eigenen Haushalt auch noch den ihrer ledigen Brüder. Ihr Ehemann war frühpensioniert, Alkoholiker. So war sie für die ganze Arbeit in Haus und Hof alleine verantwortlich. Vor drei Monaten war ihr eine schwere Maschine auf die rechte Hand gefallen, hatte ihr das Ge- lenk gebrochen, Nerven, Muskeln und Bänder verletzt. Der zuständige Tal Arzt hatte ihr einen Gipsverband angelegt, der ihr starke Schmerzen verursachte. Schmerzstillende Tabletten halfen nicht, so daß ihr der Arzt den Gips wieder abnehmen musste und die Hand in eine Schleife legte, nicht ohne ihr vorher gesagt zu haben, daß sie nur simuliere. Schwellung und Schmerzen gingen zurück und Maria Luisa wurde sofort zur Mobilisierung der Hand in die Physiotherapie geschickt. Dort fiel sie bei der ersten Behandlung vor Schmerzen in Ohnmacht, ging dann aber noch einmal. Sie wußte sich keinen anderen Rat. Denn draußen auf den Feldern wuchs das Gras und wenn sie nicht bald mähen würde, war das Futter für ihr Vieh verloren. Die Brüder waren ihr böse, der Mann verschwand einige Tage, als sie Hilfe bei Nachbarn holte, und Maria Luisa brach zusammen. 

Durch das Erzählen ihrer Geschichte hatte sie sich etwas beruhigt und legte sich vertrauensvoll auf meine Liege. Ich holte Decken und Kissen und lagerte sie so bequem wie möglich. Dann untersuchte ich ihre verletzte Hand mit großer Vorsicht. Sie schaute dabei zu und als sie sicher war, daß ich ihr nicht wehtun würde, ließ sie den 

Kopf wieder sinken und überließ mir ihre Hand. Durch meine Arbeit wechselte diese die Farbe und Temperatur und die einzelnen Gelenke ließen sich wieder bewegen. Nach einer knappen halben Stunde setzte sich Maria Luisa wieder auf, betrachtete ihre Hand und begann sie mit der gleichen Vorsicht zu bewegen, wie ich das getan hatte. Hier saß eine intelligente Frau mit großer Lebenskraft! Ihr sofortiges Interesse war nur darauf gerichtet, wie sie weiter zu mir kommen konnte, ohne daß ihre Familie, der Arzt und die Physiotherapeutin davon erfuhren. Diese Klarheit und Einfachheit haben mich stark beeindruckt. Und sie vermittelte dies nicht durch Sprache, sondern auch durch ihr Handeln. Um die sechsstündige Reise zu mir zweimal wöchentlich in Angriff nehmen zu können, erfand sie Mittel und Wege, die von einer großen Lebensfähigkeit zeugen. 

Die meisten Lektionen fanden in meiner Küche statt. Maria Luisa stand, saß und lernte mit Messern und Schwingbesen neu umzugehen. Alles, was ihr helfen konnte, ihre Hand wieder besser zu gebrauchen, nahm sie selbstverständlich und sofort an. 

Sei es die Art, wie ihre Füße auf dem Boden standen, die Art, wie sie ihr Becken schwang um mit dem Wiegemesser zu schneiden. Zu Hause, nach getaner Arbeit, nahm sie sich Zeit um ihre Hand in feine Kräuter einzuwickeln und dann blieb sie sitzen und stellte sich die erste Stunde mit mir wieder vor. Alles, was sie lernte, entwickelte sie weiter, still und für sich, und barg es als ihr süßes Geheimnis. Durch den Unfall ihrer Hand hatte sie die Liebe zu sich selbst entdeckt. Die sozialen Verpflichtungen, die ihr oblagen, die Lieblosigkeit die sie durch ihre Familie erfuhr, schwächten sie nicht mehr. Sie brachte eine wunderbare Heuernte ein und war darüber die glücklichste Frau der Welt. 

Maria Luisa war nicht an Bewusstheit interessiert, nicht am Gebrauch ihres Selbst, nicht an der Differenzierung ihrer Bewegungen. Sie war interessiert an ihrer Wiese - und dazu brauchte es keine Sprache. 

Nie vorher hatte ich, so wie nach diesem Erlebnis, Moshes zwiespältige Gefühle zur Sprache bessernachempfinden können. 

Trotzdem: Sprache war in „Bewusstheit durch Bewegung" nicht zu umgehen. Wie ist Feldenkrais mit diesem Konflikt umgegangen? 

Wie mit vielen seiner Konflikte: Er fluchte darüber und tat es dann trotzdem. Franz Wurm hat ihm damals bei der verbalen Vermittlung seiner Lektionen unschätzbare sprachliche Dienste geleistet, denn schlussendlich musste das Publikum ja verstehen können, was mit den Anweisungen, die Moshe gab, gemeint war. 

Franz Wurm war es auch, der durch seine damalige Arbeit beim Schweizer Radio die zwölfteilige ATM-Serie möglich machte. 

Ja. Die Sendereihe aus den Jahren 1968/69 im Schweizer Radio war sehr erfolgreich und wurde später als Audio-Kassetten verlegt. Es sind jeweils 30minütige Lektionen in „Bewusstheit durch Bewegung". 

Diese Radiosendung war meines Wissens der erste und einzige breitgestreute Publikumsauftritt von Feldenkrais und seiner Methode in den elektronischen Medien im deutschsprachigen Raum. 

Was fasziniert Dich so besonders an Feldenkrais? 

Im Rahmen meines Elternhauses waren es seine selbstverständliche Art, zu sein und zu handeln. Denn mit seinem Dasein zog ein anderes Leben in unseren Alltag ein. Da wurden Menschen in Rollstühlen die Treppe zu unserer Wohnung hinaufgetragen, Menschen kamen an Stöcken, oder sie wurden geführt (der „Fall Doris" begann bei uns zu Hause) und verließen das Haus nach einer Stunde wieder, meist sichtlich verändert. Unsere Stube wurde zum Warteraum und die Wartenden wurden in un- seren Alltag unkompliziert integriert. 

Später als Erwachsene faszinierte mich an ihm Verschiedenes zu verschiedenen Zeiten. Die Tatsache, daß der Alltag für ihn Anlass zur Forschung war, daß er kein Labor, keine wissenschaftlichen Abhandlungen dafür brauchte. Moshes Unterrichtsstil war nicht der eines Rhetorikers, er spielte keine Rolle und besonders nicht die eines Lehrers, das hat er immer wieder betont. Er brauchte sich auch nicht darzustellen. Er blieb echt, sich selbst treu, simpel und riskierte Fehler. Er war eine sprudelnde Quelle. Die Tatsache, daß er kein Heiliger und Besserwisser war, akzeptieren musste, daß viele seiner eigenen Fragen unbeantwortet blieben, daß er litt, ungeduldig sein konnte, sehr viel rauchte, trank und aß, daß er Schmerzen hatte, Wut, kurz alles, was andere auch haben, machten ihn so menschlich und für mich so wahr. 

Später, als ich mich mehr mit seiner Arbeit auseinandersetzte, wurde es immer spannender. Je mehr Lebenserfahrung ich hatte, desto besserverstand ich seine Freuden und Leiden. Je mehr ich mich selber kennenlernte, desto klarer, aber auch desto akzeptabler wurden mir meine eigenen Grenzen. Erstjetzt konnte die Frageentstehen, ob ich als Feldenkrais-Lehrerin „Feldenkrais" unterrichte oder „Lea Wolgensinger" unter zu Hilfenahme der Feldenkrais-Methode. 

Heute, in einer so anders gearteten Welt als der seinen, fasziniert es mich am meisten, daß Feldenkrais stets wissenschaftlich dachte und zwar kompromisslos. Daneben war er ein großartiger Humanist. Und ihm ist wie nur ganz wenigen gelungen, als Praktiker beides in genialer Art und Weise zu vereinbaren. Das bedeutet praktische Hilfe für das tägliche Leben - wissen „wie" - in schwierigen Situationen, wo Wissenschaft allein nicht helfen kann. 

Durch diese Fähigkeit hat er uns ein Erbe hinterlassen, welches offen ist und welches wir heute weiterentwickeln können und müssen. Und dafür bin ich sehr dankbar. 

Wie geht es weiter? 

(Lea Wolgensinger beschreibt anhand von Beispielen aus der Praxis, wie sie das Gedankengut von Moshe Feldenkrais in ihre Arbeit integriert und weiterentwickelt hat.) 

Die Arbeit mit der Feldenkrais Methode befriedigt alle meine Wünsche: Sie hat mit Menschen zu tun, ist sinnlich, kreativ, spannend, abwechslungsreich, erfolgreich und daher befriedigend. 

Ich kann vielen Menschen in oft kurzer Zeit zu größerer Lebensqualität verhelfen und bin bis jetzt immer in der Lage gewesen, für mich selbst und meine Gesundheit Verantwortung übernehmen zu können. 

In meine Praxis kommen kein Ben Gurion oder Yehudi Menuhin. In meine Praxis kommen die Bäuerin aus dem Bergtal, das Artistenpaar des naheliegenden Kleintheaters, der Golfspieler vom benachbarten Eliteclub, die verhinderte Tänzerin als Hausfrau, der verunfallte Architekt, der kranke Arzt und die depressive Wirtin.

Sie alle kommen mit einem Problem, sie alle haben schon alles versucht, sie alle le- gen große Hoffnung in mich - und würde ich auf dieser Basisarbeiten, wäre ich nicht Schülerin von Moshe und hätte nicht weitergedacht. In der Arbeit mit meinen Klienten ist es mir daher ein großes Anliegen, diese übliche Sichtweise sofort in ein anderes Licht zu rücken. 

Das kommt meinem Lebensgefühlsehr nahe: Ich erlebe den Alltag selten als langweilig, er ist Quelle meines Seins. Und das ist für mich auch die Feldenkrais-Methode: Nicht in der Routine zu ersticken, sondern in jeder Begebenheit das Besondere zu suchen. Das Alltägliche neu interpretieren und neue Wege beschreiten. 

Übrigens eine von Moshes Besonderheiten war, daß er eine große Kontrolle über sein Schlafbedürfnis hatte. Er konnte ganz plötzlich aufstehen, sich in einen anderen Stuhl setzen und innert 3 bis 4 Minuten einschlafen. Daß er schlief, konnten wir daran erkennen, daß er entsetzlich laut schnarchte, sehr laut und sehr unregelmäßig atmend. Das wissen alle, die mit Feldenkrais zusammengelebt hatten. Nach einer viertel Stunde war er wieder wach und topfit, regeneriert. 

Sprach er über seine Arbeit? 

Feldenkrais sprach immer über seine Arbeit. Das war sein Thema. Immer. Er erzählte uns von seiner Arbeit mit dem englischen Theaterregisseur Peter Brooks, flocht Anekdoten ein über diesen und jenen, und er berichtete von seinen Erlebnissen im Münchner Kinderzentrum. 

Sein Verhältnis zu Medizinern war sehr gespannt. Einerseits kritisierte er sie, andererseits suchte er immer wieder den Zugang zu ihnen. 

Ja, er brauchte sie. Er suchte Boden in Europa, aber es war relativ schwierig für ihn, seine Methode ohne wissenschaftliche Anerkennung dort anzusiedeln, wo er sie gern gesehen hätte, nämlich in Schulen und Spitälern. 

Was machte Feldenkrais im Kinderzentrum München? 

Dorthin wurde er von Professor Reuter eingeladen. Er arbeitete mit den kleinen Patienten. Einmal erzählte er uns, wie er einem Kind im Beisein von sehr vielen Ärzten eine FI gab und dies offensichtlich mit großem Erfolg. Er arbeitete mit einem dieser Kinder, die bereits zwei oder drei Jahre dort behandelt wurden. Als das Kind nach der FI von Moshe mehrere Dinge tun konnte, die es eine Stunde vorher noch nicht zustande brachte, schien dies die zuschauenden Ärzte kaum zu berühren. Felden- krais hatte uns darüber sehr empört und wütend erzählt. Er meinte, die Ärzte könn- ten einfach nicht über ihren Schatten springen. Sie würden sehen und Unterschiede wahrnehmen, aber das einzige, was sie nachher fragten, war so ungefähr „Und was machen Sie in Fällen von dieser und jener Krankheit?" Bei der Gelegenheit hat Moshe uns gegenüber seine Empörung und Wut über deren Unfähigkeit, verstehen zu wollen, geäußert. Ja, ausgerechnet im medizinischem Bereich gab es Erlebnisse, bei denen Moshe auf Menschen mit extremen Grenzen stieß. 

Heute bewegt sich in der Medizin einiges. Zum Beispiel wurde in Zürich erst kürzlich eine medizinische Fakultät für Alternativ-Medizin errichtet. Viel/eicht hätte Feldenkrais dort mehr ausrichten können. 

Wahrscheinlich. Leider hatte er damals nicht die richtigen Leute getroffen und auch nicht die Fähigkeiten entwickelt, seine Arbeit in einer Art und Weise zu präsentieren, die die Leute mitriss. Er drehte das dann um und schimpfte mehrheitlich über Ärzte und Krankengymnasten. Moshe hatte auch Grund dazu. Er sah, wie viele Fehler gemacht wurden und wie viele Menschen nicht mehr zu einer größeren Lebensqualität zurückkamen, und daß viele Menschen entmündigt wurden durch Behandlungen, statt eigenverantwortlich ihr Leben in die Hand zu nehmen lernten. Er sah die Ergebnisse von vielen Fehldiagnosen. 

Die Feldenkrais-Methode wird von vielen in die alternativ-medizinische Ecke gesteckt. Meinst Du, Feldenkrais wäre, wenn er noch lebte, damit einverstanden gewesen? 

Wer weiß das schon zu sagen. Vielleicht wäre ihm nichts anderes übrig geblieben, als diese Entwicklung zu akzeptieren. Ich glaube, Moshe war mit Haut und Haaren stets Wissenschaftler und zwar kompromisslos. Darum geriet er ja auch in Clinch mit jener Art von Wissenschaft, die sich nicht mehr hinterfragte. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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